11. Dezember 2013

Vom Optimierungswahn

Iss keinen Zucker! Iss keine Milchprodukte! Iss Milchprodukte! Iss kein Getreide! Iss viel Vollkorn! Iss keine Hülsenfrüchte! Iss Hülsenfrüchte! Iss kein Fleisch! Iss viel Fleisch! Iss roh! Iss gekocht!

Es gibt zig Ernährungsreligionen, äh ich meine -Konzepte, die sich im Grunde alle irgendwo widersprechen, die sich alle ihre Rosinen aus den wissenschaftlichen Studien picken und die alle quasi ewiges Glück und Weltfrieden versprechen.
Meine 94jährige Oma hat mir heute erzählt, wie sie und ihre Familie in der Besatzungszeit von den Russen Erbsen und Bohnen bekommen haben, die sie erst mal zwischen die Doppelfenster legen mussten, damit die Würmer rauskriechen.

Irgendwie rückt das meine Perspektive wieder zurecht.

Ich werde auch das Gefühl nicht los, dass dieses Herumgebastle an der Ernährung, das hypochondrische Vermuten von Unverträglichkeiten bei jedem Wehwehchen in Wahrheit nur eine riesige Industrie füttert. Und der Begriff Brot und Spiele kommt mir in den Sinn.
Die Leistungsgesellschaft macht auch vor unserer Privatsphäre nicht Halt und überwuchert uns mit ihrem Druck, auch in unserer Freizeit, in unseren Beziehungen, in unserer Ernährung, unseren Hobbies perfekt zu funktionieren. Systembedingte Probleme (nicht immer sind das rein medizinische Probleme!) wie chronische Müdigkeit, Depressionen und Burnout werden zu gerne auf Einzelpersonen geschoben. Du bist ständig müde? Vertragst bestimmt den Weizen nicht.

Auch Die Zeit hat sich in ihrer Ausgabe von 21. November dem Thema (eingebildete) Nahrungsunverträglichkeiten gewidmet, deren Leitartikel kannst du hier oder in der Printausgabe, die in deiner Bibliothek bestimmt aufliegt, nachlesen.

Besser, schneller, gesünder, fitter, früher, länger, gescheiter, höher, weiter... Verlierst du dich auch manchmal im allgegenwärtigen Optimierungswahn? Welche Bereiche sind es bei dir? Und was bringt dich wieder auf den Boden, rückt deine Perspektive wieder zurecht?



Disclaimer: Es gibt Menschen, die mehr oder weniger große gesundheitliche Probleme durch eines dieser vielen Ernährungskonzepte unter Kontrolle gebracht haben. Diese mögen sich bitte ausgeklammert fühlen.

18 Kommentare:

  1. Unsere Posts überschneiden sich gerade und sind sehr gegensätzlich. Ich versuche meine Ernährung gerade zu optimieren und du mahnst vor zu viel Verbissenheit. :D
    Ich gebe dir recht, dass manche wohl übertreiben und zu streng sind. Aber der Wunsch nach körperlichem Wohlgefühl und guter Fitness ist für mich kein Zwangszustand, den mir die Medien oder anderen aufdrücken. Muss jeder für sich selber entscheiden und in sich hineinhorchen. :)
    Und nur weil manche Vorfahren oder Leute in Afrika vergammelte Sachen essen oder fast verhungern, muss ich es nicht gleich tun. Ich mag solche Vergleiche nicht. Nur weil Opa Kettenraucher war und 92 Jahr alt wurde, muss ich es nicht gutheißen, dass meine Schwester raucht. Jeder ist sein eigener Kreislauf, der anders funktioniert und sich ganz individuell ernähren und behandeln muss.
    Liebe Grüße :)

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    1. Du bekommst ja dadurch deine Schuppenflechte in den Griff. Ich wohn in Boboville/Hipsterhausen und da sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten grade en vogue. Großteils ist das echt schon hypochondrisches Elitedenken, weil der Bioladen schon nicht mehr reicht. So wie es auch im Artikel in der Zeit steht. Klar will man sich verbessern, der Handwerker möchte immer bessere Tische herstellen, die Angestellte möchte auch dazulernen. Aber was grade da draußen abgeht ist doch absurd: kleine Kinder haben eine völlig durchgeplante Freizeit, diese und jene Kurse und sogar schon Chinesisch, in manchen Firmen ist es schon ein Selbstläufer, dass sich die Leute mit ihren Überstunden übertrumpfen wollen, wo soll das alles hinführen? Dieser Gesundheitswahn, dieser Optimierungswahn schadet doch mehr als er nützt.
      Und ich meine da natürlich eben nicht das Bedürfnis nach Besser werden in normalem Maß, oder wenn man gesundheitliche Probleme an der Wurzel packen oder sein Wohlbefindensteiern mag. Dieser Leistungsdruck, den ich wahrnehm, ist nicht gesund, nicht besser und nicht wohlig. Ich glaub auch nicht, dass das nur noch ein Problem der Mittelschicht ist.

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  2. Viele Menschen sind wohl übersensibilisiert in Sachen Unverträglichkeiten, andere wiederum kümmern sich überhaupt nicht um ihre Ernährung und die Auswirkungen auf ihre Gesundheit.

    Ich finde es schon sehr begrüßenswert, dass man sich neuerdings viel mit seiner Ernährung beschäftigt und somit zum mündigen Esser, Konsumenten und sein eigener Gesundheitserhalter wird. Ein schöner Gegentrend zur Convenience-Food-Bewegung, wo nur noch Tütchen aufgerissen werden. Natürlich steht die Industrie schon bereit, um ihre laktosefrei-glutenfrei-weißnichtwas Produkte an FrauMann zu bringen, was das Ganze vielleicht auch noch ewtas anfeuert.

    Blöd wird es da, wo das "gefährliche Halbwissen" anfängt, nach dem Motto "Sojamilch ist ja gesünder als Kuhmilch" und nichts darüber wissen was Sojamilch eigentlich ist, was das Produkt für Auswirkungen auf die Gesundheit hat, warum es "gesünder" betitelt wird etc.

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    1. Ja, ich bin da imGrunde ja auch zwiegespalten. Ich finde es gut, dass man heute auch als Durchschnittsbürger so viel darüber weiß, wie man zb seinen Körper gesund hält, sodass man sich eben auch in nd mit ihm wohlfühlt. Was ich kritisiere, ist das Übertriebene. Der Leistungsdruck, dass man im Job maximal leistngsfähig ist, und in der Freizeit auch. Dafür muss man sich perfekt erähren, ganz furchtbar viel Sport machen. Es reicht nicht, eine gute Mutter zu sein und seinen Sprösslingen ein Hobby zu ermöglichen. Irgendwer hat damit angefangen, seine Kinder möglichst früh zu fördern und auf den harten Arbeitsmarkt vorzubereiten, anstatt sie einfach Kinder ßein zu lassen. Ntürlich wird das zum Selbstläufer und andere müssen nachziehen, aus Angst, ihre Kinder könnten später dann auf der Strecke bleiben, nur weil sie nicht in einen zweisprachigen Kindergarten gegangen sind. Der Kollege, der jeden Tag eine halbe Stunde früher kommt, und dann machen die anderen das auch, aus Angst, bei Stellenabbau als erstes dran zu kommen, weil sie nicht motivierter wirken als die Kollegen. Nicht mal in der Freizeit hat man von der Leistungsgesellschaft Ruhe, und soar im Zug brüllen einen die ganzen Zeitschriften an, guter Sex reicht nicht, es muss der beste Sex überhaupt sein! besser schneller höher weiter fitter glücklicher...
      Irgendwie genauso wie bei Radiohead, fallt mir grad ein https://m.youtube.com/watch?v=3RFwhEvVqnA

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    2. Das mit dem Essen war ja beispielhaft gemeint. Mir geht es ungeheuer auf den Senkel, dass gut nicht mehr gut genug ist, alles muss besser sein und es baut sich da ein ziemlicher Druck auf, der keinem gut tut. Und wenn man nicht mitmacht, muss man Angst haben, unter die Räder zu kommen. Ich lass mich ja selber oft genug mitreißen...
      Davon wollte ich erzählen und in die Runde fragen, ob das noch wer kennt.

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    3. Die Kommentarfunktion spinnt bei mir, sry.
      Mir kommt auch vor, als wär gerade Minimalismus auch sehr gefährdet, in diese elitäre besserhöherweiter-Schiene zu kippen. Was meint ihr?

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    4. Genügsamkeit scheint jedenfalls gerade nicht als erstrebenswert angesehen zu werden. Weder in Freizeit- noch in Konsumfragen. Wer damit überfordert ist, gibt es nicht zu, man will ja nicht als Schwächling dastehen. Die anderen schaffen es doch auch! Da muss man mitziehen!!!

      Ich sehen den Minimalismus gerade gefährdet, kommerzialisiert zu werden. Man verwechselt ja auch "wenige Dinge gut nutzen" mit "Kaufen, aufreissen, wegwerfen = wenige Dinge besitzen".

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    5. Wie wahr - leider. Individualisitische Selbstoptimierung, um in der allgegenwärtigen kapitalistischen Verwertungslogik bestehen zu können. Nur: was tun? Wie kann man sich dieser ewigen Konkurrenzspirale entziehen?

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    6. Danke, Ines, dass du mein Gestammel endlich in einem Satz auf den Punkt gebracht hast! Aus der Konkurrenzspirale entziehen... Muss ich mal intensiv drüber nachdenken.

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    7. Konkurrenzspirale! Fehlerchen, du hast mich auf den Ö1-Geschmack gebracht. Diese Woche geht es um Gelassenheit: http://oe1.orf.at/programm/357223 -> Losmachen von Vorstellungen und Erwartungen Anderer; dazu zählt auch, sich der der Konkurrenzspirale zu entziehen

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  3. Du sprichst mir aus der Seele! Was ich mir dazu immer noch denke, ist, dass Ernährung kontrollierbar erscheint, so vieles andere aber nicht. Ob mit meinem Geld eine Bank gerettet oder ein Atomkraftwerk dichtgemacht wird, darauf habe ich i. d. Regel null Einfluss. Ob ich mit meinem T-Shirtkauf ein Kind irgendwo ausbeute oder ihm doch wenigtens ein bisschen Geld zukommen lasse, ist auch relativ schwer überschaubar. Nicht mal, ob aus dem chinesischlernenden Dreijährigen ein guter Abiturient wird, habe ich so richtig im Griff. Aber was ich esse, DAS kann ich bestimmen, und zwar bis zum kleinsten Fuzerls Weizenkleie. (Wenn ich mir's halt leisten kann.) Ich glaube, das gibt den Leuten das Gefühl, über irgendetwas Kontrolle zu haben, und auch das Erfolgserlebnis, in sehr kleinem Rahmen "das Richtige" zu tun.

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  4. Super Artikel. Im Grunde genommen sind die Dinge ja "ganz einfach". Wir haben nur verlernt, auf unsere Körper zu hören, sondern werden medial so zugestopft mit Meinungen (belegt natürlich jeweils durch die entsprechenden Forschungsergebnisse), dass niemand mehr so recht weiß: was denn nun. So ist das halt in unserer wachstumsorientierten Konsumgesellschaft: es geht nicht darum, was "Sinn" macht, sondern darum, was sich verkaufen lässt. Natürlich macht das vor den "essentiellen" Dingen des menschlichen Lebens (wie Essen) nicht halt.

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  5. @Peter Hinzmann - Ehrlich gesagt lebe ich lieber in einer Konsumgesellschaft, in der ich die Wahl habe, Weizenkleie oder Rindfleisch zu kaufen, statt in einem System, in dem irgendeine staatliche Instanz mir (mit welchen wohlmeinenden oder wirtschaftlichen Argumenten immer) mein Essen zuteilt.
    Es geht jemandem, der auf der Uni in einem Labor sitzt und darüber forscht, ob Obst & Gemüseverzehr einen Einfluss auf die Krebshäufigkeit hat, auch nicht immer unbedingt darum, etwas zu verkaufen.

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  6. Sehr schade, wenn so negativ über Nahrungsmittelunverträglichkeiten geschrieben wird. Es hat nichts mit Mode oder Ernährungsphilosophie oder gar Religion zu tun, wenn viele Menschen feststellen, dass sie bestimmte Lebensmittel nicht vertragen.
    Derjenige, der weitestgehend alles verträgt und essen kann, möge bitte froh sein!

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    1. Tut mir leid, wenn du das missverstanden hast. Ich habe hier u.a. von der Verunsicherung gesunder Menschen geschrieben. Ich bin laktoseintolerant und allergisch gegen Soja und Haselnüsse, reagiere sehr sensibel auf Duftstoffe und habe Neurodermitis.
      In diesem Artikel geht es nicht um tatsächliche Unverträglichkeiten, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Trend zur (zwanghaften) Selbstoptimierung. Das bleibt nicht im Ernährungsbereich, das geht in alle Bereiche rein, Sport, Gesundheit, Kindererziehung, Hobbies. Gut genug reicht nicht mehr, alle müssen zwanghaft an sich selbst arbeiten. Das ist nicht mehr allein der Wunsch, zu wachsen - alle Menschen wollen gerne besser werden und sich weiterentwickeln. Ich nehme einen Zwang wahr, der darüber hinaus geht. Es ist nicht mehr einfach so, dass es einige Leute gibt, die Gluten nicht vertragen. Nein, plötzlich darf niemand mehr Getreide essen. Es reicht nicht mehr, dass vegane Ernährung eine ethische Entscheidung ist. Jetzt sei sie schon per se gesund und Veganer können gar nicht dick sein (ach???).
      Der Optimierungswahn ist ein gesellschaftlicher Zwang, der über den im Menschen innewohnenden Wunsch zum Wachstum hinaus geht, der einem vollständige Unzulänglichkeit einredet, wenn man nicht das Ideal verkörpert. Und gegen den hab ich ganz entschieden was.
      Gut genug ist gut.

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    2. Es ging mir eben darum: wenn du es verträgst, dann iss es bitte und lass dich nicht nervös machen, dass ja angeblich das und jenes so ungesund sei. Milch ist nicht per se ungesund, nur wenn man tatsächlich eine Laktose- oder Milcheiweißintoleranz hat, soll man lieber die Finger davon lassen. So viele Leute kaufen was, weil laktosefrei draufsteht und glauben, das ist jetzt gesünder. Ohne dass sie intolerant wären. Und eine Laktoseintoleranz MERKT MAN.
      Dann die vielen, sich meist gegenseitig widersprechenden Ernährungsparadigmen. Sie sind alle existenzberechtigt. Paleo, Vegan, Vollwert, Roh u d was es sonst noch alles gibt. Aber es stimmt einfach nicht, dass es nur eine einzig wahre Ernährweise für alle Menschen gibt. Aber das ist, was Leute so verunsichert, die sich nicht auskennen. Die einen sagen, Fleisch ist das böse, die anderen, Getreide, wieder andere, gekochtes Essen, wieder andere, zu viel rohes Essen. Ja, wie jetzt? Dann scheinen die Unverträglichkeiten mehr zu werden (was mich bei der veränderten Zusammensetzung von Weizen die letztten fünfzig Jahre auch nicht wundert, mein Darm ist auch nicht so delighted von zu viel Weizen), jetzt glauben die Leute alle, sie hätten das auch (haben sie aber meistens gar nicht, sondern nur Stress o.ä.). Und dann noch diese Verunsicherung eingebettet in den allgemeinen Optimierungswahn.

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    3. Wenn du Ernährungsphilosophien im Netz beobachtest, wie Rohvegan, Vegan oder Paleo, wirst du in der Kernbewegung durchaus religionsähnliche Tendenzen wahrnehmen. Da gibts das nicht, dass jemand mit der Ernährweise nicht klarkommt - weil sein Körper einfach i dividuell ist. Nein, da macht er prinzipiell was falsch, weil Ernährweise X einfach das Nonplusultra für alle Menschen ist.
      Nochmal: mein Artikel hat genau Null mit tatsächlichen Allergien und U verträglichkeiten zu tun. Der kleine Ausschnitt steht beispielhaft für eine Gesamtentwicklung.

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  7. Dann kam der Inhalt des Artikels bei mir leider etwas missverständlich bei mir an. Denn leider ist es auch ein zu beobachtender "Trend" Nahrungsmittelunverträglichkeiten als "Modeerscheinungen" darzustellen, was dazu führt, dass Betroffene nicht mehr wirklich ernst genommen werden, was sehr schade und traurig ist.

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