19. Oktober 2015

Greenpunk und Peak Everything

Frau Dingdong hat heute oder gestern einen Artikel über Amish-Futurismus verlinkt (hier gehts zum Artikel) - und schon hab ich wieder ein Bussi von meiner Muse auf der Wange, so ein nasses schlabbriges wie von einem überschwänglichen Zweijährigen.

Ich kenn natürlich die Amischen, aber ich hab vergessen, wie inspirierend sie zum Thema Konsumkritik sind, auch wenn ich mit Religion und religiösem Leben null anfangen kann, und auch einiges kritisch seh.

Entgegen allen futuristischen Settings in Dystopien und Sci-fi-Serien sehe ich persönlich die Zukunft sehr viel mehr Low Tech als den Filmemachern und Spieleentwicklern Spaß machen würde.
Low Tech, das sind schlaue Gerätschaften, die ohne Strom o.ä. auskommen. Fahrräder sind Low Tech, ein Mixer mit Handkurbel ist Low Tech, zwei Tonkrüge mit Erde dazwischen zur Aufbewahrung von Gemüse sind Low Tech, und Segelschiffe auch.
Niemand sagt, dass diese Sachen optisch daherkommen müssen wie aus dem 18. Jahrhundert, auch wenn das manch einer schick finden kann (ich zB :D). Niemand sagt, dass das Zeug nicht beim Nachbarn ausm 3D Drucker kommen darf.
Und niemand sagt, dass Segelschiffe einen zurück ins Mittelalter katapultieren. Moderne Segelschiffe sind erstens schick und modern anzusehen und zweitens den Motorenschiffen weit überlegen (kein Motor, kein Tank, dadurch schneller, wendiger und mehr Ladefläche). Wirf mal die Suchmaschine an, da gibts ganz abgefahrene Sachen, teilweise wirklich mit Segeln, teilweise mit Turbinen. Im Netzkonstrukteur-Blog gibts ein paar so geniale Technologien, wo Strom aus riesigen Grashalmen gewonnen wird. Äh, ich schweife ab.

Aber die Realität ist trotz allem, dass uns die Rohstoffe alle enorm ausgehen. Peak Oil ist bekannt - dass uns das Erdöl verpufft. Keine Sau würde sich für die kompliziert und teuer zu bewirtschaftenden Teersandfelder interessieren, wenn die Kacke nicht schon am Dampfen wär. Unsere Gesellschaft basiert so dermaßen auf Erdöl, dass uns das volle Ausmaß noch gar nicht bewusst ist.
Energie ist ein ganz zentrales Element im Funktionieren einer gesellschaftlichen Ordnung, aber es wird eigentlich nie angesprochen, auch die Wissenschaft ist meist auf dem Energie-Auge blind.


Unsere Geschichte geht ja nämlich so:


Pflanzen wandeln Sonnenenergie in essbare Kalorien um. Tiere essen Pflanzen und nehmen damit indirekt Sonnenenergie auf - sie eignen sich die Energie die sie zum lustig Herumspringen brauchen also an, indem sie prima Biomasse jausnen. Jäger/Sammler-Gesellschaften brauchen zum Leben auch Biomasse: Pflanzen, Tiere, Holz. Nicht alles wird für Energie gebraucht (indem man es in Bauchspeck oder Lagerfeuer umwandelt), sondern auch für Häuschen und Pfeile.

Die Agrargesellschaft (neolithische Revolution) geht einen Schritt weiter, sie eignet sich nicht nur frei herumliegende Biomasse an, sie erhöht die für sie verfügbare Energie, indem sie Natur kolonisiert. So nennt man das, wenn man Nutztiere züchtet und Ackerbau betreibt, also Ökosysteme gezielt so verändert, dass der Ertrag steigt. Wenn man das geschickt macht, hat man eine kleine Überproduktion, sodass 5% der Bevölkerung nicht in der Landwirtschaft tätig sein muss.

Der große Sprung kommt durch die industrielle Revolution, wo plötzlich durch fossile Energieträger, also Kohle und später Erdöl, dermaßen große Mengen an Energie zur Verfügung stehen, wie niemals zuvor (und mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals danach...). Eine Gesellschaft kann sich nur innerhalb der energetischen Grenzen entwickeln - und die sind abhängig vom Boden, wo unser Bohnenaufstrich sozusagen rauswächst. Wirds mit dem eigenen Boden eng, holt man sichs von woanders (Kolonialismus). Fossile Energieträger haben also ein ganz wesentliches Problem (kurzzeitig) gelöst - Party!

Der wesentliche Punkt ist, Energie war immer der zentrale begrenzende Faktor und man muss alle gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen auch auf dem Hintergrund der verfügbaren Energie(träger) betrachten (leider wird das auch in der Wissenschaft meistens ignoriert).


Und der ganze Rest...


Aber das mit der Energie ist ja noch nicht alles. Der ganze Rest geht uns aus. Um die Ernährung von 7, 8 oder 10 Milliarden Menschen zu gewährleisten, brauchen wir zum Beispiel Düngemittel. Ohne die Grüne Revolution wäre die heutige Lebensmittelproduktion ja gar nicht möglich. Düngemittel kommt aber nicht aus dem Nichts. Ja ok, mit dem Haber-Bosch-Verfahren kann man sich Ammoniak sozusagen aus der Luft ziehen (allerdings nur mit enormen Energieeinsatz, und die geht uns ja bekanntlich aus). Aber sonst können wir uns Phosphor nur aus dem Berg holen - und auch das geht uns aus.
Die fruchtbaren Böden gehen uns aus. Erstens historisch bedingt - die ersten Siedlungen waren natürlich dort, wo was gut wächst. Wenn Siedlungen sich räumlich ausdehnen (urban sprawl), schlucken sie dann blöderweise genau diesen fruchtbaren Boden. Zweitens natürlich die Übersäuerung und Bodenerosion. Boden ist eine endliche Ressource. Was weg ist, ist weg. Puff. Die Humusschicht braucht viele hundert Jahre, um sich wieder aufzubauen und bis dahin muss man sie natürlich komplett in Ruhe lassen. Außer es hat sich eine Wüste gebildet, dann ist es eher mal zu spät, tät ich sagen.
Viele Metalle gehen uns aus - allen voran die Seltenen Erden. Die sind nicht in dem Sinne selten, sondern nur meistens in so Minimengen vertreten, dass man unglaublich viel mehr Geld in den Abbau stecken müsste, als rausschauen würde. Es gibt ein paar Orte, wo die konzentrierter vorkommen, und die leeren sich grade fleißig. Ist halt blöd, dass Photovoltaik zB ohne Seltene Erden nicht geht.
Die Liste ginge noch weiter. Trinkwasser zum Beispiel, ganz schirches Problem. Ach, wirf einfach mal die Suchmaschine an und such nach "Peak Everything". Halte Frustkekse bereit. Bio, wenn geht.



Peak Everything vs. heutige Gesellschaft


All diese Ressourcen sind viel wichtiger und grundlegender für unsere heutige Gesellschaft, als wir uns das im Alltag bedenken.
Dass wir eine Dienstleistungsgesellschaft haben, wo nur noch 2-5% der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten muss, das geht nur mit Erdöl. Weil wir so die menschliche Arbeit im physikalischen Sinne nicht mehr brauchen. Es ist eine einfache Rechnung: Je mehr Überproduktion von landwirtschaftlichen Produkten, desto komplexer kann eine Gesellschaft sein. Agrarische Gesellschaften sind wenig komplex. Bei 5% nichtlandwirtschaftlicher Bevölkerung ist da nur eine kleine Adelsschicht drin. Entweder man beutet andere Völker aus (Kolonialismus) und kommt so zu mehr Rohstoffen, oder man ersetzt irgendwie Arbeitskraft durch zB. Erdöl. Man darf gespannt sein, wie sich das weiterentwickeln wird. Zurück ins Mittelalter ist keine Option, allein schon deswegen, weil die Uhr, tickitacki, immer nur nach vorne geht. Was aber alles an der Ressource Erdöl hängt, darfst du dir selber mit einem Mindmap malen, ein richtig dichtes Netz aus Ernährung, Transport, Globalisierung, Komplexität, Arbeitszeitreduktion, Hobbies, Lebensstile, Verteilungsgerechtigkeit, Dienstleistungen, Medizin, gobale Gerechtigkeit, Arbeitsmobilität, Infrastruktur und Raumplanung... Und alle Linien haben Pfeile, oft in beide Richtungen. Wie werden sich Infrastrukturen entwickeln, wenn das Pendeln zum Arbeitsplatz nicht mehr möglich ist? Wie werden sich unsere Konsummuster ändern müssen, wenn die energiehungrigen Industrien umdenken mussten? Wie wird das tägliche Leben in Familien aussehen? Welche Produkte werden wir nutzen? Lass dich in deinen Gedanken treiben. Besorg dir für das Mindmap besser ein Blatt in A1-Größe und schreib klein...
Und nein, Erdöl lässt sich niemals durch Strom aus Wasser/Wind/etc. ersetzen. Nicht in der Menge, wie wir die Energie grade verbraten. Aber das weißt du ja.


Raumschiffe und Marsbesiedelung? Eh niedlich.


Inmitten so einer Realität muss ich leider bei den ganzen Weltraumfantasien herzlich lachen. Die Verfügbarkeit von Energie ist ein wesentlicher Faktor, auch was an gesellschaftlichen Geschmacksrichtungen verfügbar ist. Woher soll die Energie kommen für bemannte Raumfahrt wie in Star Trek? Atomkraft? Klar, es gibt Leute, die fest an die kalte Fusion glauben. Aber wir sollten doch aus der Geschichte über die Risikospirale (Begriff von Ulrich Beck, wenn mich nicht alles täuscht) gelernt haben. Jede neue Technologie soll in Wahrheit ja die Risiken und Probleme der alten Technologie lösen, aber bringt nur wieder neue Risiken in die Welt. Die Atomkraft wurde in Zeiten vom sauren Regen, der ja durch die Emissionen aus Kohlekraftwerken verursacht wurde, gefeiert. Bis uns mal ganz dezent ein Atomkraftwerk um die Ohren geflogen ist. Nö, ich glaube nicht an die kalte Fusion.
Ich glaube an Greenpunk.
So wie Steampunk ein vergangenes Energie- und Technikregime (Kohle/Dampf und Mechanik) in die Zukunft projiziert, projiziere ich mit meinem voll cool ganz alleine ausgedachten Prinzip des Greenpunk ein auf Biomasse basierendes Regime in die Zukunft. Nur halt ohne die ganzen uncoolen Sachen wie Patriarchat, Feudalismus, Pest und sowas. Und wirklich nix spricht gegen 3D Drucker. Aber halt das mit dem High Tech mal mit mehr Abstand sehen. Weil sonst ist man nur traurig und maulig, wenn wir wieder auf ein Energiemengenniveau von, keine Ahnung, 1920 oder so, zurückfallen.

Deswegen bin ich Minimalistin.
Es gibt ja so viele Gründe, reduziert zu leben, wie es reduziert Lebende gibt. Einer meiner beiden Hauptgründe ist Peak Everything. Er ist bereits Realität. Aber während andere noch mit Scheuklappen jedes Jahr auf die Malediven fliegen (solang es die noch gibt), bereite ich mich mental auf ein postfossiles Leben vor.
Und deswegen hab ich irgendwie auch immer nur ein müdes Lächeln für all diese High-Tech-Romantik übrig. Ich sag: Low Tech ist die Zukunft. Greenpunk :D

Deine Meinung?

5 Kommentare:

  1. Ich reiche erstmal Feuchttücher, um das schlabberbussi abzuwischen. Bestimmt sind da auch noch Lippenstiftreste dran

    Ein.super.Artikel!!! In Wirklichkeit bin ich nämlich auch für Low-Tech, weils so schön einfach ist, aber die restliche Energie sollte - anstatt für saublöde Plastikspielsachen - in Raumschiffe investiert werden :D Sonst zickt mein innerer Geek.

    Spaß beiseite: Ich kann es nicht fassen, dass alle so tun, als wäre nichts. Der Klimawandel wird in Amerika teilweise immer noch verleugnet, das Thema Völkerwanderung ist nichts mehr was "andere" betrifft, sondern wird uns selbst betreffen, wenn wir weiterziehen müssen, weil einige Landstriche komplett kaputt sind. Komisch, dass das nicht allen klar ist. Woran liegt das deiner Meinung nach? (<- könnte auch ein Thema für nen neuen Artikel sein)

    Deshalb bin ich auch Minimalistin. Weil das eine ideale Ausgangsbasis ist, um das "Gesamtkonzept Nachhaltigkeit" nochmal zu durchdenken. Und gerade bei diesen Szenarien, die du in deinem Artikel beschrieben hast, bin ich froh noch ziemlich viel Zeug zu haben mit dem ich notfalls MacGyver-mäßig noch was anderes machen kann.
    Naja, keine Ahnung. Ich wäre eh keine Erstbesiedlerin, weil ich mich das nie trauen würde, aber faszinierend und inspirierend finde ich es trotzdem. Aber gut, dafür habe ich erstmal die Sci-Fi Romane :)

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    1. SciFi ist halt auch einfach das: Fiktion. Und die darf man genauso gut finden wie wenn Magie in einem Buch vorkommt. Und im Gegensatz zu Magie ist vieles prinzipiell denkbar und schon vieles umgesetzt worden.
      Da nur 2% des geförderten Erdöls als Material und nicht Energieträger verwendet wird, also für Kunststoffe, Schmieröle, Bitumen, glaub ich kaum, dass du da weit kommen wirst mit deinem Raumschiff :D
      Kollektive Verdrängungsprozesse sind vielleicht eher Apfelmädchens Gebiet, die studiert ja Psychologie. Wie eine Schafherde blöd kauend dastehen und dem Wolf völlig handlungsunfähig ins Gesicht starren. Das ginge aber nur, wenns den Leuten auch klar wäre. Aber alle haben genug andere Probleme im Alltag, denk ich. Irgendwie sowas in die Richtung wirds wohl sein.

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  2. Wow, spannender Artikel! Finde deine Ausführung vom Übergang von der Agrargesellschaft zur Industrialisierung und die Notwendigkeit von Energie dafür extrem interessant. Hab ich mir ehrlich gesagt gar noch nie so überlegt... Dabei mache ich mir - glaube ich - doch überdurchschnittlich viele Gedanken zu Themen wie Energie, Klima, Ökologie, etc... Mir gefällt es aber sehr wenn mir solche neue Gedankengänge aufgezeigt werden und man so denkt: "wow macht voll Sinn, hab ich mir noch gar nie so überlegt!" und dabei das eigene Weltbild ein klein wenig verschoben wird.
    Aber noch eine Frage: findest du es nicht zum Teil extrem deprimierend weil viele Leute nie auch nur annähernd in diese Richtung denken und, oh well,... "they just dont give a f*"?

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    1. Freut mich, dass ich dir neuen Input geliefert hab :) Das mit der zentralen Bedeutung von Energie ist mir auch erst durch mein Studium bewusst geworden.
      Klar ist es extrem deprimierend. Auch auf der Uni war immer so dieses unterschweliige Gefühl da: die Welt geht unter aber auf uns hört ja niemand.
      Deswegen hoff ich ja auch ein bissi, dass Leute durch das recht beliebte Klamottenthema hier her kommen und dann vielleicht noch mehr mitnehmen können als nur den richtigen Schnitt für ihr Sommerkleid :D

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    2. Sooo arg deprimierend ist es andererseits aber auch wieder nicht, weil ich durchaus ein Umdenken wahrnehm, das nicht mehr nur in einer "Elite" passiert. Irgendwie sind echt schon sehr sehr viele Menschen angepisst und gelangweilt von der Konsumkultur und Konsumzwang, geben ihr Geld lieber für Bildung aus und Erlebnisse, als für Zeug. Bio und Vegan ist wirklich schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Bewusstsein steigt. Es geht in die richtige Richtung, wenngleich auch noch schleppend, aber immer schneller. Das ist dieses Ding mit der kritischen Masse, sobald die erericht ist, gehts dann immer flotter. So wie mit dem Rauchen. Noch vor 10 Jahren war Rauchen Standard. Heute wird man direkt böse angeschaut, wenn man raucht. Glaub ich jedenfalls, ich selber bin ja immer schon Nichtraucher. Aber in den meisten Lokalen ist im Raucherbereich tote Hose, weil jeder gern sein Essen schmeckt und nicht gefühlt seinen Burger aus dem Aschenbecher essen will.
      Im Grunde bin ich sehr optimistisch.

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